Das Ich braucht ein Wir

9. Petersberger Forum zum Thema Wir

Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG

Bonn, 24.6.2010 Beim 9. Petersberger Forum der Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG wurde am 23. Juni 2010 intensiv das Thema ‚Wir‘ diskutiert. Hochkarätige Referenten beleuchteten den evolutionsgeschichtlichen Hintergrund von ‚Wir‘ und ‚Ich‘, zeigten die Wichtigkeit des Subjekts in der heutigen Gesellschaft und die Verantwortung von ‚Wir‘ und ‚Ich‘ in der Politik. Im Poetry Slam setzten sich junge Dichter mit dem Thema ‚Wir‘ auseinander.

Der Primatologe Volker Sommer begrüßte das Publikum mit den Worten „ Liebe Mitprimaten, ich stehe vor Ihnen als Menschenaffe. Ich nehme Sie mit auf eine Reise zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen.“ Während dieser Reise zeigte Sommer auf, dass Schimpansen nicht nur beschränkt im Hier und Jetzt leben, sondern denken, leiden und fühlen wie wir Menschen und sich was für die Zukunft wünschen. Sie bildeten soziale Identitäten, haben ein ausgeprägtes Wir-Gefühl und entwickelten kollektive Identifikationssymbole, die sie an die nächsten Generationen weitergeben. Aufgrund der gemeinsamen Evolutionsgeschichte von Menschenaffen und Menschen warnte der Primatologe: „Wir müssen uns darüber Gedanken machen, welche Chancen wir verlieren, wenn die Schimpansen aussterben. Die Ähnlichkeiten sind enorm, nicht nur in der ‚Hardware‘ wie dem Körperbau, sondern auch in der ‚Software‘ wie den Gefühlen, dem Verhalten und beim Lernen.“

Der Theologe und Publizist Friedrich Schorlemmer hielt ein Plädoyer für das Ich im Wir: „ Das Ich braucht ein Wir, doch das verantwortliche Subjekt muss bestehen bleiben. Wenn Ideologen das Geschick eines Landes in die Hand nehmen, wird der Einzelne unter das Diktat der Gesellschaft gestellt. Im Kommunismus hatte das Wir etwas Bedrohliches.“ Die Bedingung für ein Wir sei die Freiheit jedes Einzelnen. Er sei glücklich, im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu leben. Trotz Wir bleibe das Ich verantwortlich für das eigene Tun. „Wenn alle was zu verantworten haben, hat keiner mehr Verantwortung“, so Schorlemmer. Diese Verantwortung forderte er auch von der Politik, ansonsten würde den Menschen verschleiert werden, welche Interessen hinter den Prozessen stehen. Als Beispiel für eine gelungene Abgrenzung von wir und ich zitierte der Publizist die Worte „Wir sind ein Volk. Ich bin Volker“, die ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee im November 1989 an der Bornholmer Straße in Berlin gesagt hat.

Gregor Gysi, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke, betonte in seiner Rede die Verantwortung des handelnden Wir: „Wir bezeichnet immer etwas Kollektives, ein Ensemble.“ Aus politischer Sicht sei das Wir der Gesellschaft jedoch fragil, da Konflikte, Kriege, andere Gruppen oder Staaten das Wir bedrohen. Verantwortung hätten die, die die legitime Macht ausüben. „Auch eine kapitalistische Klassengesellschaft ist auf einen Basis-Konsens, auf eine schichtenübergreifende Mehrheit und ein Wir angewiesen“, so Gysi. Zu diesem Konsens gehöre das demokratische Recht und die Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft in Ost und West. Gysi sieht in der zunehmenden Entsolidarisierung und Ausgrenzung bestimmter Gruppen im Volk und der bewussten Ausgliederung der Gesetzgebung durch die Machthabenden eine Gefahr für die Gesellschaft. Für ihn war der Staatssozialismus nicht fähig, den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Ein demokratischer Sozialismus sei jedoch möglich: „Ich träume von einer Gesellschaft, in der wir Individuen und gesellschaftliche Wesen sind.“

Gastgeber und Verlagsvorstand Helmut Graf sieht in der Gesellschaft einen großen Wunsch nach neuen Gemeinschaftsidealen: „Trotz Individualsierung der Lebensstile und Globalisierung der Märkte ist keineswegs die Lust auf Zusammensein vergangen. Vor allem die jüngeren Generationen sind Kollektivisten und Individualisten zugleich, die sich via Internet und Mobiltelefonen ihre Gemeinschaftsorte nach Interessen und Themen aussuchen und gestalten.“ Graf zitierte den Soziologen Heiner Keupp, wonach die Individualisierung offensichtlich nicht in einer anonymen Ego-Gesellschaft endet, sondern hohe Potenziale für solidaritätsfördernde Netze und gemeinschaftsfördernde Aktionen existieren. „Das Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006 und hoffentlich 2010 steht beispielhaft für die neu erwachte Sehnsucht vieler Deutschen nach Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit“, so Graf.

Im Poetry Slam stellten sich junge Dichter dem Thema Wir und der Publikumsjury. In sechs Beiträgen zeigten sie ihre Sicht auf den Begriff. Sie sprachen über ‚globali-wir-te Menschen‘, ‚Anrufbeantworter Deutschland‘ und ‚Ich bin Wir‘. Den ersten Platz gewann Julian Heun aus Berlin, Platz zwei belegte das Team Marieke Beerwerth und Jan Kai Goldberg aus Münster und Platz drei gewann Elena Lorscheid aus Marburg.

Die Thesen der Referenten und Slammer sorgten für anregende Diskussionen bei den 500 geladenen Gästen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Lars Ruppel.