Eine alte jüdische Legende,
weitergeschrieben von Pfarrerin Heike Lambrecht, Erzbischöfliche Tagesheimschulen Pullach
Am sechsten Tag der Schöpfung hatte Gott Himmel und Erde, Pflanzen und Tiere erschaffen. Da ging er mit sich selbst zu Rate, ob er auch Menschen erschaffen solle. Und während er noch überlegte, traten seine drei liebsten Töchter vor ihn: die Gerechtigkeit, die Weisheit und die Liebe.
Zuerst erschien die Weisheit: „Vater, tu es nicht! Der Mensch würde alles verderben. Denn er wird nicht Deiner himmlischen Weisheit folgen, sondern seinen eigenen verworrenen Einfällen. Er wird nach Macht streben. Er wird sich für besser halten als alles, was Du sonst noch geschaffen hast. Gib Deine schöne Schöpfung nicht diesem Wahnsinn preis!“ So redete die Weisheit. Gott aber schwieg.
Da trat die zweite Tochter, die Gerechtigkeit, vor ihn: „Vater, auch ich bitte Dich: Erschaffe den Menschen nicht. Er wird Deine Gerechtigkeit nur verachten. Die Menschen werden einander verleumden, unterdrücken, hassen. Wenige werden alles an sich reißen. Allen Mitgeschöpfen werden sie das Leben zur Hölle machen. Laß den Menschen weg – und Deine Schöpfung wird ein ungestörtes Paradies bleiben.“ So sprach die Gerechtigkeit. Gott aber schwieg.
Schließlich trat die dritte Tochter vor Gott, die Liebe: „Es ist ja manches wahr an dem, was meine Schwestern gesagt haben. Und doch bitte ich Dich: Erschaffe den Menschen. Und gib ihm, was Du keinem Deiner Geschöpfe gegeben hast: Die Freiheit und die Liebe. Zwar ist die Freiheit mißbrauchbar und die Liebe verletzlich. Aber sie beide machen die Würde des Menschen und Deines Schöpfungswerkes aus. Dann erst wird vollendet sein, was Du erschaffen hast.“
So sprach die Liebe – und der Vater nahm diese Tochter in den Arm, küßte sie – und erschuf den Menschen.
So weit diese alte Legende. Und was wäre, wenn die drei Töchter noch einmal aufträten? Lange Zeit, nachdem die ersten Menschen auf der Erde lebten, ausgerechnet in jener Nacht in Bethlehem, als das göttliche Kind geboren wurde?
Sie tauchen also wieder auf, an der Krippe – sicher erst, als es still geworden ist, als die Hirten und die Engel schon wieder weg sind, als Josef Frau und Kind versorgt hat und selber ein wenig in Schlaf gesunken ist. Da geht also leise die Stalltür auf. Maria, nur wenig erschrocken über den fremden Besuch (denn damit hat sie ja nun Erfahrung), winkt den Schwestern freundlich, näher zu treten.
Und die erste, die Weisheit, steht lange, ohne ein Wort zu sagen. Dann schüttelt sie verwundert den Kopf: „Wer soll das verstehen im Himmel und auf Erden? Wer außer Gott kann den Sinn fassen? Glaubt ihr Schwestern denn, daß die Menschen je begreifen, was in dieser Nacht geschieht? Soll wirklich durch dieses Kind ein neues Zeitalter anbrechen? Schaut euch doch die Menschen an: Was ich prophezeit habe, ist eingetroffen – die Menschen halten sich für die Krone der Schöpfung. Sie zerstören alles, was die Grundlage ihres Lebens ist. Und das Kind soll das ändern? Niemand wird es verstehen. Mehr noch: Gott bringt sich selbst in Gefahr, wenn er den Menschen so nahe kommt.“
Inzwischen ist die zweite der Schwestern zur Krippe getreten, die Gerechtigkeit. „Ich fürchte, Du hast Recht! Das Kind wird es schwer haben, sehr schwer. Die Menschen nehmen immer, was sie kriegen können. Und diesen Jesus werden sie nehmen und mit ihm machen, was ihnen paßt. Und wenn er nicht macht, was sie wollen, werden sie ihn verfolgen. Seine Ideen werden als weltfremd und gefährlich gelten. Sie werden sagen, er verdrehe den Menschen den Kopf. Sie werden alles tun, um ihn loszuwerden. Nur damit sie sich nicht zu ändern brauchen.“
Da erklingt die Stimme der dritten Frau, der Liebe. Sie spricht ganz leise, es ist, als kämpfe sie mit den Tränen. „Meine Schwestern haben recht“, so sagt sie zu dem Kind in der Krippe, „man wird Dich nicht verstehen. Dich, Gottes Weisheit. Du wirst es schwer haben. Denn Du wirst die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen, sie beherrschen, sondern freundlich einladen zu einem Leben mit Gott.“
Und dann faßt die Liebe ihre beiden Schwestern an der Hand: „Merkwürdig, ich teile eure Sorge, daß es schief gehen oder sogar ganz schlimm ausgehen wird, wenn Gott sich den Menschen so preisgibt. Statt ihr Leben zu ändern, werden sie den lieben Gott wie ein Beruhigungsmittel gebrauchen. Sie werden die Geburt dieses Kindes Jahr um Jahr feiern – und dann doch weitermachen wie immer, bis alles kaputt ist.“
Verblüfft blicken die beiden anderen Schwestern die Liebe an: „Ja, dann wollen wir Gott doch gemeinsam bitten, er möge den Menschen den Garaus machen, bevor es zu spät ist. Er kann dann ja einen neuen Typ Mensch erschaffen. Ohne die Fähigkeit, alles kaputt zu machen. Ohne die Möglichkeit, andere auszubeuten, auf Kosten anderer zu leben – eben: ohne Freiheit! Ohne diese so ungeheuer gefährliche Freiheit!“
Aber die dritte Schwester, die Liebe, schüttelt den Kopf: „Dann wären es ja keine Menschen mehr, sondern nur dressierte Tiere. Gott wollte den Menschen als freies Wesen. Denn ohne die Freiheit hört die Liebe auf. Und sie soll nun wirklich nicht aufhören. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn gesandt hat, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Darum geht er in dieser Nacht das Risiko ein, sich den Menschen so wehrlos auszuliefern. Als Mensch und Bruder will er ihnen zeigen, wie man nach Gottes Willen leben und lieben kann.“
Und die dritte Schwester, die Liebe, streicht dem Kind sacht über den Kopf und sagt leise: „Riskier es. Und wenn es Dich Dein Leben kostet.“ Dann dreht sie sich um, nimm ihre Schwestern bei der Hand und schiebt sie leise zum Stall hinaus.
Und wenn die Schwestern heute noch einmal kämen, zu uns im Jahr 2016? Alle drei, nicht nur die eine, die so schön über die Liebe spricht, nein, auch ihre kritischen Schwestern?
Was würde die Weisheit sagen? Vielleicht: „Versucht nicht zu erklären, was doch nicht erklärt werden kann. Sucht euch lieber Gleichgesinnte und probiert mit ihnen aus, das zu leben, wozu Gott den Menschen geschaffen hat – zur Freiheit in Liebe!“
Was würde die Gerechtigkeit sagen? Vielleicht: „Vergeßt nicht, an eurem Fest wenigstens ein deutliches Zeichen zu setzen, daß es anders werden muß. Laßt euren Egoismus sterben. Versinkt nicht in Selbstmitleid oder Angst. Habt Vertrauen!“
Und die Liebe? Vielleicht würde sie gar nichts mehr sagen, nur lächeln. Denn sie hat ja damit gerechnet: Weil Weihnachten ist, ist alles möglich. Sogar dies, daß ziemlich unmögliche Menschen merken, wozu Gott sie leben läßt: um zu lieben.