Vom Leiden eines Leiters

Wie wir mit Angriffen und Verletzungen umgehen können (AUFATMEN 2/98 Seite 42)

Günther Schaible

Mein Beruf und Dienst macht mir viel Freude. Ich leite zusammen mit einem größeren Mitarbeiterteam ein christliches Schulungs- und Trainingszentrum im Schwarzwald. Daneben werde ich von den unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften zu Diensten und Seminaren eingeladen. Menschen kommen zu mir, um sich beraten zu lassen in Fragen ihres Lebens und der Entwicklung ihres Dienstes. Bei all dem erfahre ich viel Achtung und Anerkennung und könnte eigentlich dankbar und zufrieden sein.

Doch ein Aspekt macht mir immer wieder zu schaffen: Die Angriffe und Verletzungen von anderen Menschen, denen ich immer wieder ausgesetzt bin. Da habe ich zum Beispiel jahrelang einen Menschen begleitet. Viele Stunden haben wir miteinander gesprochen. Ich konnte mithelfen, Leben und Dienst dieses Menschen zur Entfaltung zu bringen. Doch irgendwann beginnt der Ablösungsprozeß. Ich merke es durch kleine und kleinliche Angriffe. Und eines Tages erhalte ich von diesem Menschen einen Brief mit etwa folgendem Inhalt: „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Ratlos und verletzt sitze ich da. Ist das die Dankbarkeit für all den Einsatz in den vergangenen Jahren?

Ich lebe in einer christlichen Lebensgemeinschaft. Von außen sieht so eine Gemeinschaft meist recht harmonisch und friedlich aus. Aber in der Gemeinschaft bricht immer mal wieder Neid und Eifersucht auf – wie überall in der Welt. Dann fühle ich mich angegriffen durch kleinliche Machtkämpfe, bei denen es darum geht: „Wer ist der Schönste und Beste im ganzen Land?“

Als Leiter ziehe ich Aggressionen und Anfeindungen auf mich. Ich werde unterschwellig oder offen von anderen bekämpft und manchmal wird hintenherum negativ über mich geredet. Ich merke das und bin verletzt.

Zugleich gibt es andere Gruppierungen und Gemeinschaften im Land, die einiges an unserer Gemeinschaft auszusetzen haben, denen etwa unser Frömmigkeitsstil nicht gefällt. Auch da kommen Angriffe oder Ablehnung. Es wird gewarnt: „Zu diesen Seminaren und Tagungen kannst du unmöglich gehen, sie sind zu liberal oder zu charismatisch oder zu engstirnig. Ich rate dir, bleib da lieber weg!“ Immer wieder wird man verleumdet. Auch durch diese Angriffe und Ablehnungen fühle ich mich jedes Mal wieder angeschossen und verwundet. Ich überlege mir: Was hast du falsch gemacht? Wo liegen deine Fehler und Schwachpunkte?

Natürlich kennt man sich mit der Zeit etwas in der Psychologie aus und weiß um Übertragungen und Projektionen:

Da projizieren junge Menschen ihr Vaterbild in mich hinein und es tut ihnen gut, daß sie eine Zeitlang in mir ihren Ersatzvater finden. Einen Vater, der sich Zeit nimmt für sie, der sie anerkennt, wertschätzt und mithilft, daß sie ihr Leben entfalten können. Doch irgendwann kommt die Umkehr. Um sich selbst behaupten zu können und sich freizuschwimmen, löst man sich ab, wird selbständig und bekämpft den Ersatzvater. Zum Schluß bekommt der Leiter, der Ersatzvater, einen Tritt, damit die eigene Ablösung besser gelingt. Und dieser Tritt tut weh und verletzt – verletzt mich.

Jean Vanier schreibt in seinem Buch „In Gemeinschaft leben“: „Die Autorität ist eine gute Zielscheibe. Ist man unzufrieden mit sich selbst oder der Gemeinschaft, dann muß man auf jemand schießen können. Allzu oft erwartet man zuviel vom Verantwortlichen. Man möchte, daß er der ideale Vater wäre, der alles weiß und jedes Problem zu lösen vermag. Man möchte, daß er alle Gaben des Leiters hat. Sobald man aber bemerkt, daß er auch Schwächen hat, ist man verunsichert und lehnt ihn ab. Der Leiter zieht allzu oft das Knechtische und die Aggression seiner Untergebenen auf sich “

Diese Verletzungen und Verwundungen – über die viele verantwortliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich beklagen – fordern uns, fordern mich heraus, nachzudenken: Wie gehe ich mit dieser Verletzung um? Wie reagiere ich darauf?

Ich kann ganz menschlich darauf reagieren. Dann bin ich zuerst einmal sauer und versinke im schlimmsten Fall in Selbstmitleid. Oder ich werde aggressiv: „Muß ich mir das bieten lassen, nach all dem Einsatz und Engagement für diesen Menschen?“ Der eine frißt dann seinen Zorn in sich hinein, andere werden aggressiv gegen ihre Mitmenschen. Wie also gehe ich mit meinen Verwundungen und Verletzungen um?

Für mich ist es wichtig geworden, daß ich nicht nur menschlich auf diese An- griffe reagieren muß. Bei mir ist es

schon auch so, daß ich einige Zeit mein Sau- ersein pflege. Aber dann erinnere ich mich immer wieder: Ich will als Christ nach biblischen Orientierungsmaßstäben auf diese Verletzungen reagieren. Das heißt, ich muß eine Entscheidung fällen: Will ich menschlich oder im Sinne Jesu Christi reagieren? Diese Entscheidung fällt mir nicht immer leicht – und manchmal brauche ich auch eine gewisse Zeit, bis sie vollzogen ist. Denn die menschliche und allzu menschliche Haltung liegt auch mir näher.

Und doch will ich mich entscheiden, geistlich nach den Maßstäben Jesu Christi zu handeln. In der Bergpredigt Jesu heißt es: „Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlun- gen vergebt; dann wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Matthäus 6,14.15). Wenn ich also dem anderen Menschen nicht vergebe, ihm nicht verzeihe, wenn ich mich innerlich mit dem anderen nicht aussöhne, dann versiegt eine wesentliche geistliche Quelle in meinem Leben – nämlich die Vergebung durch Jesus Christus, die ich selbst dringend benötige.

Ich bleibe im Schuld- und Verletzungskreislauf verhaftet und mein Leben wird eingeschränkt und verengt. Es kann sein, daß mein menschliches und geistliches Leben auf diese Weise immer mehr austrocknet. Ich bin innerlich voller Wut und Ärger. Das heißt aber, daß ich mir selbst schade, wenn ich nicht vergebe. Wahrscheinlich schade ich mir selbst sogar mehr als dem anderen. Ich entscheide mich also, zu vergeben und zu verzeihen – und damit für die Versöhnung. Natürlich braucht dies Zeit. Bei, schwereren Verwundungen vielleicht sogar sehr viel Zeit.

Weil ich immer wieder angegriffen und verwundet werde, habe ich für mich einen kleinen „Stufenplan“ aufgestellt, der mir hilft An ihn möchte ich mich – so gut es geht – halten. Allerdings wende ich diesen kleinen „Stufenplan““ bei mir sehr variabel an.

Es ist mir wichtig, daß ich mir meine Verletzungen bewußt mache. Ich will sie nicht verdrängen, sonst wirken sie im Untergrund weiter und blockieren mich. „Ja, dieser Mensch hat mich durch diese Attacke so und so verletzt.“ Ich schaue diese Verwundung und Verletzung an und ich leide daran. Dieses Leiden, manchmal auch die Tränen darüber, lasse ich zu. Ja, andere Menschen wurden an mir schuldig. Auch ich wurde an ihnen schuldig – auch das gestehe ich mir ein.

Ich gestehe mir auch ein, daß ich ent- täuscht wurde. Bestimmte Vorstellungen und Illusionen, eventuell sogar Idealvorstellungen wurden zerbrochen. Das tut weh. Doch durch dieses Entäuscht-werden komme ich der eigentlichen Wirklichkeit etwas näher. Das kann für mich sehr heilsam sein. Wenn Idealvorstellungen in die Brüche gehen, lebe ich anschließend realistischer und menschlicher. Diesen schmerzhaften Prozeß will ich aushalten und akzeptieren.

Eine junge Frau lebte einige Jahre in unserer Familie mit. Wir halfen. ihr, in ihrem Leben zurechtzukommen. Unsere Kinder waren gerne mit ihr zusammen und spielten öfter mit ihr. Eines Tages zog sie an einen anderen Ort um und brach überraschend alle Beziehungen zu uns ab. Wir hörten nichts mehr von ihr – trotz unserer weiteren Bemühungen um sie. Wir waren recht verletzt und frustriert und konnten leider nichts mehr machen. Die Wirklichkeit hatte uns eingeholt: Sie hatte sich abrupt von uns abgelöst, unsere Vorstellungen von einer weiteren freundschaftlichen Beziehung zu ihr wurden herb enttäuscht.

– Dann entscheide ich mich bewußt dafür, dem anderen in Jesu Namen zu vergeben. Manchmal schreibe ich diese Verletzungen und auch die Schuld des anderen, durch die ich verletzt wurde, auf und schreibe darunter: „Erika oder Wolfgang … in Jesu Namen vergebe ich dir“.

Bei Magnus Malm, „Gott braucht keine Helden“ (Edition AUFATMEN), las ich den Gedanken, daß ein Leiter den anderen immer einen Schritt voraus sein sollte, nämlich den Schritt, dem anderen schneller zu vergeben. Das möchte ich mir zu Herzen nehmen.

– Manchmal sind die Verwundungen und Verletzungen so tief, daß ich es nötig habe, ganz neu die Liebe Jesu. für mich in Anspruch zu nehmen. Ich bitte Jesus ganz bewußt darum, daß er seine Liebe in mein verwundetes Herz ausgießt, damit es Heilung empfängt(Römer 5,5). Jesu herzliche Liebe, seine Wertschätzung, seine versöhnende Kraft und sein Friede helfen mir, daß meine Verwundungen nach und nach heilen können.

Oftmals ist dies bei mir kein einmalige-. Vorgang. Denn nach einigen Tagen, einiger Wochen und Monaten brechen Verletzungen wieder auf und ich brauche erneut diese heilende Liebe Jesu für mein verwundetes Herz.

Über Jahre hinweg wurde ich von be- stimmten Kollegen öffentlich verleumdet. Sie griffen mich und meinen Dienst an und redeten allerlei Negatives über mich. Ich sprach mit ihnen darüber – aber die Angriffe hörten nicht au£ Ich wollte nicht zurückschlagen und ihnen mit gleicher Münze vergelten. Immer wieder neu mußte ich ihnen vergeben. In dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als, mir immer wieder neu bewußt zu machen: Jesus liebt mich und akzeptiert mich, so, wie ich bin. Und ich will in dieser Liebesbeziehung meines Herrn zu mir aushalten und durchhalten, trotz der weiteren Angriffe und Verletzungen. Den anderen zu vergeben, das wurde praktische Realität in meinem Leben. Jahre später erkannte ich, daß Jesus mir diese Situation bewußt zugemutet hat, um darin persönlich zu reifen.

Ein weiterer Schritt ist, daß ich mir bewußt mache, daß es zu meinem Leben als Christ und christlichem Leiter dazu gehört, das Kreuz Jesu Christi mitzutragen. Jesus hat gelitten in dieser Welt, um die Welt zu erlösen. Paulus hat uns aufgefordert, dieses Leiden Jesu in unserem Leben und in unserem Dienst mit auf uns zu nehmen. Es ist also ein völlig normaler Vorgang in meinem Christenleben, daß ich Anteil habe an dem Leiden Christi, und ich will willig mitleiden als guter Streiter Christi (2. Timotheus 2,3). Dieser Gedanke entlastet mich.

Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich noch gut an die Situation einer Großveranstaltung. Ich hatte in einer Sportarena zu predigen und war entsprechend aufgeregt: Gelingt es mir, den vielen Menschen das Evangelium zu sagen, so daß sie auch zuhören? So daß sie sich von der Botschaft Jesu betreffen lassen? Sie haben zu- gehört und im Anschluß daran bekam ich gute Rückmeldungen. Doch einige Tage später kam der Anruf eines Kollegen, der mir be- richtete, daß sich ein Pfarrer über einige Passagen in meinem Vortrag mächtig aufgeregt habe. Prompt war ich sauer darüber. Längere Zeit lief eine innere Diskussion bei mir ab.

Bis ich mir klar machte: Ich kann es nicht jedem recht machen. Solche Angriffe und Verletzungen gehören zu meinem Dienst dazu, sie sind auszuhalten und durchzustehen. Denn ich habe Anteil am Leiden Jesu Christi in dieser Welt.

– Manchmal ist es für mich auch wichtig, Leid und Verletzungen durch einen bewußt vollzogenen Beschluß loszulassen und an Jesus Christus zu übergeben. Genauso wichtig ist es für mich, Menschen loszulassen und freizugeben, ihren eigenen Weg zu gehen. Bei Jesus weiß ich sie in guten Händen. Das hilft mir, mit Verletzungen besser umzugehen.

– Und wenn ich mich von den Menschen, die mich verletzt haben, gar nicht distanzieren kann, weil sie zu meiner Familie, meiner Gemeinschaft oder meinem Umfeld gehören? Ich begegne ihnen ja immer wieder und die Erinnerung an Angriffe und Verletzungen bricht immer wieder auf.

Für mich ist es zur Praxis geworden, diese Menschen bewußt in Jesu Namen zu segnen. Ich lege den Segen und die Kraft Jesu Christi auf sie. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wenn ich an sie denke oder wenn die Verwundungen wieder hochkommen, segne ich sie immer wieder neu.

Ich habe erlebt, daß dadurch die Versöhnung und das Aussöhnen an Schubkraft gewinnt. Ich brauche nicht mehr negativ über andere zu denken. Die Segenskraft Gottes erreicht sie und mich. Der Segen wirkt wie ein geistlicher Schutzschild für mich. Bonhoeffer schreibt, daß dadurch das Kreuz Jesu Christi zwischen mir und den anderen steht. Wenn zum Beispiel jüngere Menschen in die Seelsorge zu uns kommen und wir sie hilfreich beraten können, dann freuen wir uns mit ihnen. Hin und wieder geschieht es aber, daß junge Menschen sich nicht helfen lassen wollen und einen verderblichen Weg der Bindung an Alkohol oder Drogen weitergehen. Ich fühle mich dann sehr hilflos dabei, weiß nicht mehr weiter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als sie in Jesu Namen immer wieder neu zu segnen und sie der Führung unseres Herrn anzubefehlen.

– Zu diesem „Stufenplan“ gehört aber auch, daß ich mir überlege, wo ich selbst an anderen schuldig geworden bin, und wo ich versagt habe. Mir ist es wichtig, mich für meine Schuld und mein Versagen beim anderen zu entschuldigen. Manchmal ist ein versöhnendes Gespräch dran. Im Konfliktfall ist es eine Hilfe, dem anderen meine Wünsche und Bitten für ein zukünftiges, gutes Miteinander in einer ruhigen Atmosphäre mitzuteilen. Ich will aber auf der Hut sein, ihn dabei nicht anzugreifen. In Römer 12 steht: Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden (Römer 12,18).

Ich will versuchen, so gut ich es kann, meinen Teil zur Versöhnung beizutragen. Ich möchte diesen etwas mühsamen Weg auf mich nehmen, gemäß der Vaterunser-Bitte zu reagieren: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“.