Ein Hirte saß bei seiner Herde am Ufer des großen Flusses, der am Rande der Welt fließt. Wenn er Zeit hatte und über den Fluß schaute, spielte er auf seiner Flöte. Eines Abends kam der Tod über den Fluß und sagte: Ich komme, um Dich nach drüben mitzunehmen. Hast Du Angst? Warum Angst? fragte der Hirte. Ich habe immer über den Fluß geschaut. Ich weiß, was drüben ist. Und als der Tod ihm die Hand auf die Schulter legte, stand er auf und fuhr mit ihm über den Fluß, als wäre nichts. Das andere Ufer war ihm nicht fremd, und die Töne seiner Flöte, die der Wind hinübergetragen hatte, waren noch da.
Der Glaube bleibt, sagt die Bibel. Die Hoffnung und die Liebe bleiben.
Und die Legende von dem Hirten meint: Was in uns zu klingen angefangen hat, das nimmt der Wind über den Fluß. Die Liebe vor allem ist da, wenn wir ankommen, und macht uns das andere Ufer vertraut.
Denn Gott, sagt Jesus, ist nicht ein Gott von Toten, sondern von lebendigen Wesen auf allen Ebenen der Wirklichkeit. Und wenn auch seine Gedanken nicht die unseren sind und seine Wege uns nicht vertraut, dann glauben wir doch seinen Gedanken und vertrauen uns seinen Gedanken an.
In Ihm werden wir auferstehen, und die fremde, ferne Welt, die wir heute noch das „Jenseits“ nennen, wird uns aufnehmen wie eine Heimat.
Inzwischen gehen wir auf dem Weg, der uns zugewiesen ist. Wir gehen unter einem weiten Himmel und sind hier zu Hause und überall, wohin unser Schritt führt.
Vor uns ist das Licht. Alle Dunkelheit wird eines Tages hinter uns sein.
Gott sagt: Zieh in Freude aus. Ich will Dich in Frieden leiten. In der Freiheit meiner Kinder kommst Du zum Ziel, und in meinem Licht wirst Du vollendet werden.
Es ist ein Weg da. Geh ihn. Ich bin bei Dir.
Legende, nacherzählt von Dr. Jörg Zink – deutscher Theologe und Schriftsteller, Predigtpreis 2004 (1922-2016)